Wenn wir ein musikalisches Werk anlernen, lernen wir
meistens zuerst die richtige Töne zur richtigen Zeit zu
spielen. Während das Stück geläufiger wird, fügen wir
Tempowechsel, Nuancen und verschiedene Artikulationen
hinzu. Abhängend vom Entwicklungsstand des Musikers und von
der Schwierigkeit des Werkes können vielleicht einige
dieser Faktoren vom Anfang an mit einbezogen werden. Nach
einer bestimmten Übzeit werden wir die Komposition so
spielen können, wie sie auf dem Notenblatt geschrieben ist.
Ist das aber alles? Wäre es möglich, unsere Interpretation
zur nächst höheren Stufe zu bringen?
Mit den hoch entwickelten Computerprogramme, die heute
erhältlich sind, können wir einen Synthesizer
programmieren, dass er genau das tut: Er spielt alle
richtigen Töne zur richtigen Zeit, alle Nuancen und alle
Artikulationen, alles wie auf dem Papier geschrieben und
noch genauer als der Mensch. Eigentlich, wenn wir Menschen
es mit dem Musizieren nur soweit schaffen, kann uns
irgendein Computer ersetzen. Das ist nur die Ebene der
technischen Fähigkeiten, und es fehlt hier etwas ganz
wesentliches.
Die nächste Stufe ist die Ebene der Musikalität. Auf dieser
Stufe lernen wir, uns auszudrücken. Ich sage
“lernen”, weil es ein andauernder Prozess ist,
der uns bis ans Lebensende begleitet wird. Wir können uns
jetzt schon einigermassen ausdrücken, aber hat der
musikalischen Ausdruck eine Grenze? Ich glaube nicht. Die
Fähigkeit, uns auszudrücken, ist nur dadurch limitiert, in
wieweit unsere Vorstellungskraft uns mitträgt. Werfen wir
einen Blick auf einige Aspekte, die uns zur wahren
Musikalität führen.
Jede Phrase die wir spielen - ja sogar jede Note die wir
spielen - kann ein Ausdruck unserer Emotionen sein. Jeder
grosse Komponist hat ein bestimmtes Gefühl, das er in jeder
einzelnen Phrase ausdrücken wollte, und hat seine Seele für
die Mittel dazu durchforscht. Die Fähigkeit, unsere Gefühle
in der Musik auszudrücken, ist in direktem Verhältnis zu
unserer Fähigkeit, uns in den Absichten des Komponisten
einzufühlen - Wir müssen versuchen, das zu fühlen und
reproduzieren, was der Komponist empfunden hat, als er die
Musik schrieb. Eine wunderbare Methode zu lernen, wie man
Emotionen in der Musik spürt, ist das Zuhören der
italienischen Opernmusik des späten 19. Jahrhunderts.
Verdi, Puccini, Leoncavallo, Giordano, Mascagni - um einige
der herausragenden Komponisten zu erwähnen - haben die
ganze Palette der menschlichen Emotionen in Musik gesetzt.
Ein grosser Sänger wird von Intensität, Farbe, Phrasierung
und Vibrato Gebrauch machen, um die verschiedensten
Emotionen auszudrücken, die der Komponist in seine
Übersetzung der Geschichte in die Musik hineinschrieb. Wäre
es nicht wunderbar, auf dieser Stufe zu musizieren?
Am Anfang wird es Zeit brauchen, um in die Gefühlsebene
hineinzutauchen. Nehmen wir ein einfaches Crescendo als
Beispiel. Mit einem leisen Ton anzufangen und lauter zu
werden ist die Ebene der Technik. Die Ebene der Musikalität
ist zu spüren, warum wir lauter werden, vielleicht
um ärgerlich oder unerbittlich zu werden. Zwei Werkzeuge,
die wir dazu gebrauchen könnten, wären Intensität und/oder
Vibrato. Ein weiteres Beispiel ist die Phrasierung. Jede
Phrase die wir spielen, soll in eine Richtung weisen. Sie
soll uns zu oder von einem Ziel führen, und ein Gedanke
oder Gefühl ausdrücken. In Bezug auf die Artikulation
bedeutet das Spielen eines Akzentes, zum Beispiel, nicht
nur eine Note lauter anzuspielen, sondern auch ein Betonen
oder Hämmern oder sogar ein Verlangen. Es hängt alles davon
ab, was wir vermitteln wollen. In der Musik sind das
Visualisieren und die Verinnerlichung der Absichten des
Komponisten, und das Erwecken der eigenen Gefühle in uns
selber, lebensnotwendig.